Montag, 3. März 2008

Die vergessene bürgerliche Mitte

Berlin. Der FDP-Partei- und -Fraktionsvorsitzende DR. GUIDO WESTERWELLE schrieb für die „Welt“ (3.3.2008) den folgenden Gastbeitrag:

„Ist es Zufall, dass Friedrich Merz an der Union, Wolfgang Clement an der SPD und Oswald Metzger an den Grünen verzweifeln? Jeder dieser Rückzüge ist ein Beleg dafür, dass es in diesen Parteien zwar einzelne bürgerliche Politiker gibt – doch die Etatisten haben die Mehrheit. Das ist der Unterschied zur FDP. Damit trennt uns gleich viel von konservativer wie von linker Staatsgläubigkeit.

Kurt Beck und Norbert Röttgen haben hier mit dem Begriff des Bürgers, des Bürgerlichen und der Mitte gerungen. Kurt Beck hat Recht, wenn er schreibt: „Die bürgerliche Mehrheit sitzt in keinem Lager.“ Die bürgerliche Mehrheit sitzt mitten in der Gesellschaft. Und Norbert Röttgen hat Recht, wenn er schreibt, dass es einen fundamentalen Gegensatz gibt: Bürgerliche Politik wehrt sich gegen jeden „staatlichen Besserwisseranspruch“. Nur findet sich genau dieser Glucken-Reflex leider bei Konservativen genauso wie bei Sozialdemokraten. Beide vertrauen zuerst dem Staat. Wir dagegen setzen auf den mündigen Bürger.

Bürgerlich zu sein ist eine Haltung zum Leben. Bürgerlich verhält sich, wer seine Freiheit zur Verantwortung lebt. Bürgerliche Politik will den Staatsbürger, nicht den Staatskunden. Auf Einstieg statt auf Ausstieg zu setzen und Verantwortung selbst zu tragen, statt sie zu delegieren, hat weder etwas mit einer Einkommensschicht zu tun noch ist das spießbürgerlich. Bürgerlich ist modern. Bürgertum hat heute nichts mit Biedermeier zu tun.

Bürgerlich zu sein ist zu allererst eine Geisteshaltung. Bürgerlich zu denken heißt, sich zur eigenen Verantwortung für sich selbst und für seine Nächsten zu bekennen. Bürgerlich zu denken heißt, nicht zuerst nach dem Staat zu rufen. Wir begrüßen, was Spötter Sekundärtugenden nennen: Leistungsbereitschaft, Weltoffenheit, Toleranz, Zuverlässigkeit, Fleiß. Diese Werte stammen aus der in Freiheit gelebten Verantwortung. Und zuletzt heißt bürgerlich, die Gesellschaft vom Einzelnen her zu denken – nicht aber von Schichten oder Klassen her, vorbestimmt von Glauben, Geldbeutel oder Geschlecht.

Der Staat wird nicht sozialer, wenn und weil er mehr zahlt und umverteilt. Genau so aber definieren die meisten Sozialdemokraten in der SPD – und ausdrücklich auch viele Sozialdemokraten mit schwarzem Parteibuch – soziale Gerechtigkeit. Liberale dagegen sehen den Bürger eben nicht zuerst als bedürftig. Wir sehen ihn nicht als Objekt staatlicher Zuwendung. Wir sehen ihn als Subjekt einer aktiven Bürgergesellschaft. Damit diese funktionieren kann, braucht es die Möglichkeit der Teilhabe. Eine echte Chance mitzumachen hat nur, wer die Gesellschaft als durchlässig erfährt.

Damit stellen wir uns sowohl gegen die Sozialdemokratie wie auch gegen die Union. Erstere wird im Zweifel immer für die soziale Gleichheit und damit praktisch oft für Gleichmacherei kämpfen, letztere im Zweifel immer für die gegebene Ordnung eintreten. Beides beschneidet Teilhabe und Durchlässigkeit. Gleichheit vor dem Gesetz und die Ordnungsprinzipien einer sozialen Marktwirtschaft sowie eines demokratischen Rechtsstaats sind auch für uns selbstverständliche Kern-Bestandteile Deutschlands. Aber: Im Konflikt zwischen den Werten steht für uns immer die Freiheit vorn.

Während Kurt Beck so tut, als habe es den Linksrutsch der SPD nicht gegeben und als stehe seine Partei zur Agenda 2010, tut Norbert Röttgen so, als habe sich seine CDU nie vom Leipziger Reform-Parteitag verabschiedet. Er fordert „die Perspektive der Entlastung der Bürger“ im Steuerrecht – als hätte es die größte Steuererhöhung in der Geschichte der Republik Anfang 2007 nie gegeben, durchgesetzt von Union und SPD.

Beide drücken sich um eine Antwort auf die Frage, wie viel Schutz und Vorsorge in Zeiten der Hochgeschwindigkeits-Globalisierung richtig und nötig ist. Wir sagen: Sicherheit erbt man nicht aus dem Beharren, sondern wir erarbeiten sie uns aus dem Verändern. Und solche Veränderungen kommen heute nicht mehr vom Rand der Gesellschaft, sondern aus der Mitte, wo die Bürger immer mehr für den Staat zahlen, aber immer weniger bekommen. Diese bürgerliche Mitte will einen in seinen Kernaufgaben starken, aber keinen allmächtigen Staat, der zerfranst. Diese Bürger, denen die Früchte ihrer Leistung genommen werden, sehen den Staat, so wie er heute real existiert, mehr als teuren Versager denn als wohlwollenden Vater. Sie wissen, dass stark effizient heißt, aber nicht teuer heißen muss.

Freiheitlichkeit als Leit-Prinzip ist unbequem. Wir Liberale machen uns da nichts vor. Die Vernunftkategorie Freiheit, die die Verantwortung einschließt, die Folgen des eigenen Handelns mit zu bedenken, ist anspruchsvoller als „das Herz schlägt links“ oder „Küche, Kinder, Kirche“. Wir wissen aber, dass in der globalisierten Welt, in der kein Mensch auf Deutschland wartet, die soziale Marktwirtschaft die beste Antwort ist. Ob gemessen am Pro-Kopf-Einkommen oder am Bildungsniveau: Vor einer Generation spielte Deutschland noch an der Welt-Spitze. Heute halten wir uns noch in der Ersten Liga. Einen Abstieg müssen wir vermeiden. Niemand erledigt unsere Hausaufgaben – wenn nicht wir selbst.

Zu den Hausaufgaben gehört eine Steuerstrukturreform und eine durchgreifende Verbesserung der Bildungschancen. Ein einfacheres, niedrigeres und gerechteres Steuersystem sorgt dafür, dass der Aufschwung endlich bei der vergessenen Mitte unserer Gesellschaft ankommt – bevor er vorbei ist. Wir wollen keine Steuerstrukturreform für millionenschwere Steuerhinterzieher, sondern für die breite Mitte der Leistungsträger, die sich zurecht über eine Gerechtigkeitslücke beklagen. Diese Gerechtigkeitslücke ist entstanden, weil die Parteien von Kurt Beck und Norbert Röttgen gemeinsam die Steuern und Abgaben erhöht haben und damit den Familien immer weniger Luft zum Atmen lassen. Teilhabe muss bedeuten, dass ein Volk von Eigentümern besser ist als Volkseigentum.

Bürgerlichkeit ohne Bildung ist undenkbar. Wenn Teilhabe – also: die Chancen der Bürger – ein so zentraler Gedanke ist, dann folgt daraus, dass die Durchlässigkeit des Bildungssystems entscheidend ist. Als jemand, der erst die Realschule und dann das Gymnasium besucht hat, weiß ich genau, wovon ich hier spreche. Wir brauchen maßgeschneiderte Bildungsangebote statt linker Einheitsschulen oder konservativer Kasten.

Gute Bildung ist die individuelle Gerechtigkeitsfrage von morgen – und für Deutschland eine Schicksalsfrage. Ich begrüße Norbert Röttgens selbstkritische Einlassung, dass die Union ihre traditionelle „Selbstzufriedenheit“ ablegen müsse. Es war eine wesentliche Errungenschaft der sozialliberalen Regierung, diese Starre aufzubrechen. Doch heute ist die Bildungs-Bilanz schlecht. In keinem demokratischen Industrieland ist der Bildungserfolg so sehr mit der sozialen Herkunft verknüpft wie bei uns; in keinem offenen Land haben Einwanderer so schlechte Bildungschancen wie in Deutschland. Wir vergeuden hier ganze Generationen.

Das ist der Grund, warum sich die FDP so zentral mit den Themen Bildung, Wissenschaft und Forschung auseinandersetzt. Im Kern brauchen wir dreierlei: Ein gegliedertes Schulwesen, das jedem Kind gerecht wird, größtmögliche Durchlässigkeit zwischen den Bildungsangeboten und ein Bekenntnis zum Leistungsprinzip als Kriterium dafür, was für eine Schulform für welches Kind die beste ist. Dass „Herkunft kein Schicksal mehr sein darf“ ist jedenfalls eine richtige Forderung von Kurt Beck. Nur sollte die politische Linke aufhören, Leistung als Körperverletzung und Noten als Folter zu begreifen. Es ist keine Schande, unser Bildungssystem – im akademischen wie im beruflichen Teil – auf die Unterschiedlichkeit der Begabungen auszurichten, sondern Deutschlands größte Chance.

Bürgerliche Politik ist nicht staatsfeindlich. Ein Staat, der einen guten Rahmen für die Vorsorge des Einzelnen setzt, ist im Sinne einer solchen Politik. Ein Staat, der Familien gängelt, ist es nicht. Regierungen wie zuerst die rot-grüne und heute die schwarz-rote, die dauernd vom Bundesverfassungsgericht an die Grenzen zulässiger Eingriffe in die Bürgerrechte erinnert werden müssen, betreiben keine bürgerliche Politik. Auch in Zeiten der Gefahr durch den Terrorismus muss der Bürger nicht nur durch den Staat, sondern immer wieder auch vor dem Staat geschützt werden – die Karlsruher Urteile beweisen es.

Die bürgerliche Mitte gehört niemandem, keiner Partei und keinem Lager. Sie gehört Deutschland – und sie ist das Rückgrat unserer Gesellschaft. Unser Land wird von der bürgerlichen Mitte getragen, von all den hart arbeitenden Leistungsträger, und das sind die Busfahrerin, der Handwerker oder die Krankenschwester ebenso wie die Verwaltungsbeamtin, der Architekt oder die Ärztin. Diese breite bürgerliche Mitte hat ein Wertegerüst mit zwei Grundpfeilern: wirtschaftliche Freiheit und gesellschaftliche Freiheit. Freiheit in der Wirtschaft heißt soziale Marktwirtschaft. Freiheit in der Gesellschaft heißt Toleranz.

Diese bürgerliche Mitte gehört nicht der FDP, und die FDP behauptet nicht, sie zu besitzen. Die Liberalen nehmen aber für sich in Anspruch, bürgerliche Werte zu vertreten. Und die FDP tritt anderen Parteien dort entgegen, wo diese die bürgerliche Mitte vergessen. Genau dies ist in den vergangenen Jahren leider allzu oft geschehen. Kurt Beck und Norbert Röttgen werben um enttäuschte Bürger, die sie selbst vergrätzt haben.“

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