Donnerstag, 10. Januar 2008

Braucht es die FDP noch?

Berlin. Der FDP-Partei- und -Fraktionsvorsitzende DR. GUIDO WESTERWELLE gab der „Zeit“ (11. Januar 2008) das folgende Interview. Die Fragen stellten MARC BROST und BRIGITTE FEHRLE:

Frage: Herr Westerwelle, auch unter den Anhängern der FDP plädiert die Mehrheit laut Umfragen für einen stärkeren Staat: Für mehr Sicherheit und gegen Privatisierungen. Das passt nicht so recht zur Forderung Ihrer Partei nach mehr individueller Freiheit. Wie erklären Sie sich das?
WESTERWELLE: Das hat zwei Gründe. Der teure, wabernde Staat mischt sich über Steuern und Abgaben immer stärker ins Leben der Bürger ein – auch in Bereichen, aus denen er sich besser heraushalten sollte. Und beim Abbau der Bürgerrechte verliert er komplett Maß und Ziel. Gleichzeitig wird dieser Staat bei seinen Kernaufgaben immer schwächer. Obwohl wir Bürger noch nie so viel Geld für den Staat ausgegeben haben wie jetzt, wird er in seinen sechs Kernaufgaben – innere Sicherheit, äußere Sicherheit, Infrastruktur, soziale Sicherheit, Bildung und kulturelle Vielfalt – immer schwächer.

Frage: Wirklich? Außenpolitisch tut Deutschland immer mehr, die Kriminalität im Land insgesamt sinkt, die Staatsquote ebenfalls …
WESTERWELLE: Ich bin ganz anderer Auffassung. Was die äußere Sicherheit angeht, rede ich nicht über einige Auslandseinsätze militärischer Art, sondern über die Zustände bei der Bundeswehr. Schauen Sie sich den technischen Zustand des Geräts oder die Unterbringung unserer Soldaten an! Und zum Thema innere Sicherheit: Derselbe Ministerpräsident, der ein Defizit bei der inneren Sicherheit beklagt …

Frage: … Hessens Ministerpräsident Roland Koch …
WESTERWELLE: … verschweigt, dass die Strafverfahren in seinem Bundesland so lange dauern wie sonst nur in Brandenburg. Das sind die Folgen des Personalabbaus in diesem Bereich, von der Polizei bis hin zur Justiz. Doch anstatt sich um den Vollzug zu kümmern, beschließt man neue Gesetze. Ich kann Ihnen Schwäche um Schwäche aufzählen. Beispiel Infrastruktur: Ich hätte mir nie vorstellen können, dass eine Regierung aus Union und SPD weniger für Autobahnausbau und -instandhaltung ausgibt als die rot-grüne Regierung vor ihr. Beispiel Soziale Sicherheit: Obwohl wir immer mehr Geld für den Sozialstaat ausgeben, hat sich die Kinderarmut seit 2004 ungefähr verdoppelt. Beispiel Bildung: In den Schulen und Hochschulen wird der Mangel verwaltet. Oder nehmen Sie die Kulturetats: Die sind doch längst zu Steinbrüchen der Kämmerer geworden. Es ist ganz natürlich, dass die Bürger da fragen: Wo ist eigentlich der Staat, wenn wir ihn brauchen?

Frage: Der FDP-Chef fordert einen stärkeren Staat?
WESTERWELLE: In diesen Kernbereichen, ja. Als Liberaler will ich sogar einen starken Staat, glaube aber: Stark ist nicht der Staat, der teuer ist, sondern stark ist der Staat, der sich auf seine Kernaufgaben konzentriert, der Rahmenbedingungen setzt und sich ansonsten aus dem Leben der Bürgerinnen und Bürger heraushält.

Frage: Das ist seit Jahrzehnten Ihre Position. Die Frage ist heute, zum Beispiel angesichts der bedrohlichen Erderwärmung oder den internationalen Folgen der Globalisierung, ob nicht zu viel Freiheit und zu wenig Regeln die Probleme schafft.
WESTERWELLE: Liberale sind nicht gegen den Staat. Wären wir gegen den Staat, wären wir Anarchisten. Wir bejahen eine staatliche Ordnung, aber im Sinne einer Rahmensetzung, in der die freie und faire Gesellschaft leben kann. Das heißt nicht, dass wir bei Ökologie keine staatlichen Rahmensetzungen brauchen. Ich werbe nur dafür, dass wir die Umweltpolitik von der Dominanz des Irrationalen befreien. Ich halte es für einen schweren Fehler zu sagen: Wer für erneuerbare Energien ist, muss gleichzeitig ein Gegner der CO2-freien Kerntechnik sein.

Frage: Die faire und freie Gesellschaft hat in der Klimafrage ihre Freiheit dazu genutzt, so viel CO2 zu ermittieren, dass es die Lebensgrundlage aller Menschen gefährdet.
WESTERWELLE: In der Umweltpolitik gab es manchmal zu wenig Staat und manchmal zu viel. Es war immerhin eine christlich-liberale Regierung, die beispielsweise die Notwendigkeit eines Katalysators vorgeschrieben hat. Ich glaube aber, dass manche ökohysterische Übertreibung eher dazu geführt hat, vernünftige Umweltschutzmaßnahmen zu diskreditieren. Die Leidenschaft, hinter jedem Erdloch den Feldhamster zu vermuten und deswegen den Bau von neuen, saubereren Kraftwerken zu verhindern, hat die Grünen in Nordrhein-Westfalen zu Recht ihre Regierungsbeteiligung gekostet.

Frage: Um staatlichen Einfluss, Sicherheit und Schutz geht es auch bei der Frage, ob Deutschland die Investitionen ausländischer Staatsfonds kontrollieren sollte. Die Mehrheit der Bürger bejaht das.
WESTERWELLE: Und ich sage dennoch ausdrücklich: nein! Wir sägen damit den Ast ab, auf dem wir als Exportnation sitzen. Jedes Mal, wenn wir ein Handelshemmnis aufbauen und einen Schutzzaun ziehen, wird dasselbe gegen deutsche Investitionen auf diesen Märkten geschehen. Wer Russland und China ökonomisch aus Europa aussperren will, wird das Echo in Russland und in China hören – zu Lasten unserer Arbeitsplätze und unseres Wohlstandes. Globalisierung ist übrigens auch die Globalisierung der Menschenrechte.

Frage: Die Menschen sehen das offensichtlich anders.
WESTERWELLE: Aber das wäre für mich kein Grund, das als richtig Erkannte zu leugnen. Für mich ist es ein Grund, für das richtig Erkannte zu werben. Ich habe ein anderes Politikverständnis als zum Beispiel die Bundeskanzlerin. Die sagt: Die Meinungsumfragen sind jetzt so und so, also müssen wir die staatliche Lohnfestsetzung zum Schutz des Postmonopols gegen die private Konkurrenz mitmachen. Das hat dazu geführt, dass im Jahr 2007 erst die SPD und dann die Grünen der Linkspartei hinterhergerannt sind – und zum Ende des Jahres 2007 schließlich die Union der SPD. Statt die Zeiten guter Konjunktur für gute Reformen zu nutzen, wird die Reformpolitik abgewickelt.

Frage: Die FDP ist gegen den Mindestlohn, weil der angeblich Arbeitsplätze vernichtet. Den Mindestlohn am Bau haben Sie 1995 mitbeschlossen. Sind dort denn Arbeitsplätze vernichtet worden?
WESTERWELLE: Das Entsendegesetz war Mitte der 90er-Jahre umstritten genug, seine Notwendigkeit wurde gerade auch von der FDP bestritten. Es ist dennoch eingeführt worden, als Antwort auf die junge EU-Osterweiterung und wegen der Befürchtung ausländischer Billigstlöhne. Jetzt wird es zum Schutz eines Staatsmonopols gegen inländische private Konkurrenz und deren Arbeitsplätze eingesetzt.

Frage: Also wurde damals auf den Wunsch nach Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit Rücksicht genommen. Heute wird das Gefühl der sozialen Ungerechtigkeit hauptsächlich von der Tatsache beeinflusst, dass Löhne und Vermögen immer weiter auseinanderdriften.
WESTERWELLE: Wir wollen uns doch mit den Fakten auseinandersetzen. Es gibt europäische Länder, in denen die Situation viel schlechter aussieht. Die Spreizung der Einkommen ist in Deutschland in etwa so hoch wie die in Schweden. Das soll nicht bestreiten, dass es in Deutschland eine Gerechtigkeitslücke gibt. Es gibt sie. Was verschwiegen wird: Sie ist in weiten Teilen von der Politik der Bundesregierung gemacht. Der Staat hat im letzten Jahr eine durchschnittliche Familie mit 1600 Euro mehr belastet als im Jahr zuvor.

Frage: Das ist ein Grund. Ein anderer, dass es in Tarifverhandlungen Nullrunden gab. Ohne die Regierung verteidigen zu wollen: Aber unter Kohl und der sozialliberalen Koalition war Mitte der neunziger Jahre die Staatsquote höher.
WESTERWELLE: Es sind einige Steuern gesenkt worden und dafür wurden andere Belastungen – Stichwort Ökosteuer – so angehoben, dass heute zwei Drittel der Energiepreise vom Staat gemacht sind: Ökosteuer, Mehrwertsteuer, Zwangsbeimischung Biodiesel. Deswegen sage ich Ihnen: Die Gerechtigkeitsfrage in Deutschland wird in vielerlei Hinsicht zu stellen sein. Meiner Meinung nach sollte sie vor allem unter dem Gesichtspunkt der Leistungsgerechtigkeit gestellt werden. Das ist der Grund dafür, dass ich auf diese Netto-Frage so viel Wert lege: Ein Bruttomindestlohn, von dem am Schluss netto doch nicht mehr übrig bleibt, weil die Regierung immer mehr zugreift, schließt keine Gerechtigkeitslücke.

Frage: Warum also vertrauen die Menschen der Idee der Regulierung mehr als der Idee von Freiheit?
WESTERWELLE: Weil man Freiheit nicht ohne Risiko bekommt.

Frage: Vielleicht scheint vielen in einer unübersichtlichen Welt das Risiko zur Freiheit zu groß? Ein Arbeiter, dessen Betrieb nach China verlagert wird, kann mit Freiheit wenig anfangen.
WESTERWELLE: Die Sehnsucht nach Freiheit ist groß. Ist Freiheit da, wird sie zu einer Selbstverständlichkeit wie die Luft zum Atmen. Erst wenn sie wieder fehlt, merkt man, dass sie fehlt. Deshalb hat der große Liberale Karl-Hermann Flach immer gesagt: Freiheit stirbt zentimeterweise. Man darf nicht warten, bis ein Kilometer zustande gekommen ist, sondern muss vorher anfangen – ausdrücklich auch bei den Bürgerrechten. Herr Schäuble setzt leider fort, was unter Rot-Grün mit Herrn Schily begann. Hinzu kommt: Manche verstehen Freiheit als die Freiheit von Verantwortung, die Freiheit völliger Wertebeliebigkeit. Die Freiheit, nach Mallorca reisen zu können, ist nicht die Freiheit, die wir meinen. Wir meinen die Freiheit zur Verantwortung, für sich selbst und seinen Nächsten. Ich glaube nicht, dass Nächstenliebe eine staatliche Dienstleistung ist. Oft genug muss der Ablasshandel an den Staat herhalten für die Weigerung, persönlich mehr gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen – nach dem Motto: Jetzt habe ich dieses Jahr schon so viel an den Staat gezahlt, mehr ist von mir auch nicht erforderlich. Das ist aber nicht die Kultur der Bürgergesellschaft, die wir wollen.

Frage: Freiheit kann für den Einzelnen unterschiedlich viel bedeuten. Nicht jeder kann mit seiner Freiheit gleich viel anfangen.
WESTERWELLE: In der Freiheit liegt immer die Gefahr, sich falsch zu entscheiden, ein Risiko unterschätzt zu haben. Das sollte aber nicht dazu führen, dass wir vor lauter Angst vor den Risiken die Chancen verpassen. Die Chancenorientierung sollte in unserer Gesellschaft überwiegen, nicht die Risikofixierung. Ich bestreite gar nicht, dass die Botschaft der FDP die unbequemste Botschaft aller politischen Parteien ist. Das ist in der Tat so. Wir haben die unbequemste Botschaft aller politischen Parteien, weil wir statt Freiheit von Verantwortung sagen: „Freiheit zur Verantwortung“, mit all der Last, die damit auf den eigenen Schultern liegt.

Frage: Wenn Roland Koch in Hessen die Wahl gewinnt, wird das möglicherweise unter anderem damit zu tun haben, dass er die Diskussion in Richtung der Jugendgewalt gelenkt hat. Damit kündigt er eine Politik an, die den Vorstellungen der FDP eigentlich diametral entgegensteht. Wie reagieren Sie darauf?
WESTERWELLE: Ich bin froh darüber, dass Herr Koch definitiv nicht wird alleine regieren können, sondern in jedem Fall die FDP brauchen wird. Damit ist ein liberales Korrektiv gewährleistet und klar, dass Herr Koch und die Schwarzen nicht abheben können.

Frage: Halten Sie eine bürgerliche Mehrheit in Hessen für wahrscheinlich?
WESTERWELLE: Ich glaube, dass wir sowohl in Hessen als auch in Niedersachsen sehr gute Chancen haben, eine linke Mehrheit zu verhindern. Ansonsten wird es auch dort eine linke Regierung geben, vielleicht in einem Tolerierungsmodell, wie es schon in Hamburg diskutiert wird. Natürlich sind die Wahlen in Hessen und Niedersachsen keine Vorwahlen für den Bund, aber sie sind schon eine Zustandsbeschreibung der politischen Diskussion in Deutschland. Das Ergebnis wird ein Gradmesser sein, wie weit der Linksrutsch des letzten Jahres bei den Wählern angekommen ist.

Frage: Es wird auch ein Gradmesser sein, ob die Wähler mehr Sicherheit wollen oder mehr Freiheit.
WESTERWELLE: Ich bin sehr gespannt, ob die Debatten – weg vom Erwirtschaften, hin zum Verteilen, weg von der Freiheit, hin zur Gleichmacherei, weg vom Privaten, hin zum Staat – bloß eine öffentliche Diskussion sind oder tatsächlich eine Verschiebung der inneren Achse der Republik. Das wird sich nicht in den ersten beiden Wahlen des Jahres zeigen, aber nach und nach. Meiner Meinung nach haben wir das richtige Programm. Ich selbst habe persönliche Schwächen und persönliche Stärken, wie jeder andere auch. Aber doch bin ich voll gelassener Kampfeslust, und das ist kein Widerspruch. Ich bin gelassen deshalb, weil ich mir innerlich sicher bin. Jede kritische Frage zur Freiheit macht mich fester in meiner Überzeugung, dass genau dieser Kampf gekämpft werden muss. Es ist ein intellektueller Kampf, es ist ein handfester politischer Kampf...

Frage: ...der möglicherweise in einer Koalition mit einer Kanzlerin endet, die hier, wenn man Ihrem Generalsekretär glaubt, regiert wie in der DDR?
WESTERWELLE: Der Generalsekretär der FDP hat richtig gestellt, was richtig zu stellen war. Was die Koalitionsfrage angeht, antworte ich gerne mit folgender Anekdote: Treffen sich zwei 90-Jährige. Sagt der eine: „Wie geht es Dir?“ Darauf der andere: „Wenn ich an die Alternative denke, geht es mir richtig gut.“

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